Kürzlich bin ich im Netz über die „Europa-Liste“ gestolpert. Per Fragebogen soll
dank der Initiative des Goethe-Instituts nach einer europäischen Identität
gesucht werden – Europa werde ja momentan nur noch auf sein ausuferndes
Finanzchaos reduziert, bei dem jeder so langsam den Durchblick verloren hat.
Hier wolle man sich klicktivistisch endlich wieder auf kulturelle
Gemeinsamkeiten besinnen. Nichts einfacher als das. Als Redakteurin des
sechssprachigen Europamagazins cafebabel.com sollte das ein Kinderspiel sein. Ein
paar Klicks später kommt die Ernüchterung.
Es ist noch zu früh, selbst für uns Erasmus-Spinner und
Euroenthusiasten, von einer europäischen öffentlichen Meinung zu sprechen. Das
macht mir das Goethe-Quiz ziemlich deutlich. Das erste Problem kommt schon mit
der Frage: Wer ist der/die wichtigste
Politiker/-in in Europa (lebend oder aus der Vergangenheit)? Kopfzerbrechen.
Wen nennt man da? Einen der Gründerväter der EU? Langweilig, kennt keiner.
Einen aktuellen Politiker, der sich für die Einigung und Erweiterung einsetzt?
Angela Merkel wohl doch nicht etwa. José Manuel Barroso – pfffffffff, ich kann
mich nicht an eine größere Sache erinnern, die er in seiner doppelten
Legislaturperiode angestoßen hätte. Sackgasse.
Irgendwie bleibt man trotz jahrelangem Auslandsstudium und
Europaerfahrung weiterhin am öffentlichen Diskurs im Heimatland hängen.
Vielleicht hat man sich allenfalls nach mehreren Jahren als Expat eine
binationale öffentliche Meinung zurechtgelegt. Im Endeffekt entscheide ich mich
also für Helmut Kohl – den Kanzler der deutschen Wiedervereinigung. Ich bin
Europäerin, aber auch Deutsche – Ostdeutsche sogar. Und ohne ihn könnte ich
heute nicht meinem Journalistenlotterleben in Paris frönen. Eine spontane Antwort
sieht anders aus. Europa kommt noch nicht natürlich zustande. Europa kann
anstrengend sein.
Brücken schlagen
Mit dieser Anstrengung, ein leider häufig künstliches Europa
redaktionell aufzubereiten, sehen wir uns auch bei cafebabel.com täglich konfrontiert. Wir versuchen Nationales zu
europäisieren. Aber wie sieht dieser Spagat konkret aus? Die News in einem
paneuropäischen Panorama aufweichen? Die Meldungen der 27 Mitgliedstaaten (bald
28) in andere Sprachen übersetzen, um sie einem breiteren Publikum zugänglich
zu machen? Unlesbar! Bürgerjournalisten aus ganz Europa motivieren, die
neuesten Trends aus ihrem Dunstkreis mit anderen Babelianern zu teilen? Schon
besser.
Betrachtet man die Besucherzahlen europäisch ausgerichteter
Webseiten und Kanäle wie arte, presseurop oder eben cafebabel.com,
so muss man ehrlicherweise zugeben, dass es sich um Nischenmedien handelt, die
nur einen Bruchteil der rund 500 Millionen Europäer erreichen. Auch die
Initiative des Europäischen Parlaments, einen eigenen Fernsehkanal ins Leben zu
rufen, ist löblich. Aber mal Hand aufs Herz: Wer schaltet schon regelmäßig europarltv ein? Die Zahlen sind ernüchternd. Gelesen und angeklickt wird
Europa größtenteils in der Eurobubble,
unserer eingeschworenen, selbstreferenziellen Euro-Community.
In unserer redaktionellen Charta steht klipp und klar: cafebabel.com will eine europäische
öffentliche Meinung fördern. Wir wollen über transnationale Debatten,
Mehrsprachigkeit und Austausch Grenzen überwinden. Über 15 000 junge Europäer
zwischen 20 und 35 Jahren sitzen bereits mit im Boot und schreiben, übersetzen,
remixen, schlagen vor was das Zeug hält. Und das macht richtig Spaß. Zu sehen,
dass so ein Ding wie cafebabel.com
seit 2001 stetig wächst und gedeiht, ist eine tägliche Motivation
weiterzumachen.
In unserer Zentralredaktion in Paris sitzen dafür die
deutschesten Spanier, Tango tanzende Polen und frankophile Italiener, die die
redaktionelle Linie täglich ausreizen und die neuesten Trends in Europa
austarieren. Stress gibt es ab und an, wenn Stereotype ausgepackt werden. Und
das kommt seit der Krise öfters vor.
Dann kann eine Polin schon mal wütend werden, wenn man ihr permanent mit Kommunismus, Klempnern
und Katholischer Religion kommt. Sollte ein Europamagazin überhaupt auf
Klischees eingehen? Wie böse darf religiöse Satire sein? Darf man Angela Merkel
mit Hitler oder das griechische Schicksal mit der ehemaligen DDR vergleichen?
Unsere Statistiken zeigen: der Italiener klickt weiterhin
italienisch, der Slowene slowenisch. Franzosen klicken auf Cahuzac, Griechen
auf Samaras. Deshalb versuchen wir Europa so gut wie möglich über Kultur-,
Gesellschafts- und Lifestylethemen zu zähmen und Brücken zu schlagen.
Europäische Bands auf Tour, Transparenz und Digitalisierung,
Demokratieverständnis, die Lebenssituation der Roma, die LGBT-Rechte, Hipsterhorden in europäischen
Metropolen, Feminismus und Jugendarbeitslosigkeit – das sind Debatten, mit
denen sich heutzutage sowohl ein junger Litauer in London als auch ein Franzose
in Alicante identifiziert.
"Frankenstein"
Europa
Die Artikel aus dem Ressort Politik bleiben jedoch bei allem
guten Willen national ausgerichtet. Das „Monster Frankenstein“, wie
Parlamentspräsident Martin Schulz die Europapolitik kürzlich nannte, handle
zwar wie eine Regierung, wurde aber nie vom Volk legitimiert. Und solange
dieses Demokratiedefizit besteht, werden die Debatten auch weiterhin national
ausgetragen werden. Eine europäische öffentliche Meinung bleibt ohne eine
gemeinschaftliche Europapolitik ein statistisches Konstrukt, reduziert auf eine Handvoll Eurobarometer-Umfragen, deren Ergebnisse zumindest
„ermutigend“ seien. "Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt,
dass wir Lösungen auf Gemeinschaftsebene brauchen. Die Bürger erkennen
das", so Schulz.
Es mag stimmen, die Finanzkrise hat Europa in den letzten Jahren
näher in den Fokus gerückt. Noch nie gab es so viele Schlagzeilen über
Griechenland in Europas Tageszeitungen. Nie haben wir die Wahlen in Italien so
aufmerksam verfolgt wie dieses Jahr. Und plötzlich kommt einem der Name
Grybauskaite doch irgendwie bekannt vor. Sechs große Tageszeitungen (Le Monde, El País, Gazeta Wyborcza, Süddeutsche
Zeitung, The Guardian und La Stampa) bringen neuerdings in mehrere
Sprachen übersetze Europa-Beilagen. Vielleicht ahnen wir, dass uns die
Entscheidungen in anderen Mitgliedstaaten nicht unmittelbar, aber doch in
irgendeinem Quäntchen betreffen.
Ausnüchtern nach dem
Eurorausch
Bei cafebabel.com haben
wir begriffen, dass wir uns in einem experimentellen Zwischenstadium befinden.
Unsere redaktionelle Linie hat sich seit der Gründung 2001 dem Alltäglichen,
den Gemeinsamkeiten der Eurogeneration verschrieben. Doch diese Gemeinsamkeiten
haben Grenzen. Deshalb wollen wir unsere Leser zukünftig dort abholen, wo sie
sich gerade befinden, irgendwo im europäischen Chaos, irgendwo zwischen
nationaler, binationaler und europäischer Identität: raus aus der Eurobubble
und näher zu den Menschen. Unsere neue Webseite, die in wenigen Wochen das
Licht der Welt erblicken wird, wird daher die gewohnte europäische sowie eine
nationale Ausrichtung haben.
Die letzte Frage im Goethe-Quiz lautet: In welchem Land siehst du
die Zukunft Europas? Solange man darauf eine klare Antwort außer Europa im
Ganzen findet, hat die europäische öffentliche Meinung noch einen langen Weg
vor sich, bevor sie die Eurobubble zum Platzen bringt. Wenn Europa nur in einer
Brüsseler Seifenblase gedeiht, hat eine wahrhaftige europäische Öffentlichkeit
trotz vieler neuer transnationaler Medienprojekte keine Chance. Wir bei cafebabel.com stoßen aber weiterhin gut
angeheitert in allen Ecken des Kontinents auf das Gegenteil an – denn durstige
Menschen lassen sich von einem Kater grundsätzlich nicht abschrecken - Cheers.
Autorin: Katharina Kloss
Redaktion: Romy Straßenburg
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