Schule.

Die Erinnerungen dieser prägenden Institution bleiben ein ganzes Leben: beste Freundschaften, rebellierende Teenager-Jahre, Panikattacken vor den Matheklausuren, Rauchen auf dem Schulhof, das endoplasmatische Reticulum, im Bus ganz hinten die Hausaufgaben abschreiben und die niemals endenden Canapé-Beschreibungen in Thomas Manns Buddenbrooks.
Ich persönlich erinnere mich noch genau an die eine Woche, die ich damals bei meiner französischen Austauschschülerin in einem Vorort von Paris verbrachte.
Sagen wir es so: mit dem Schulalltag zuhause in Frankfurt hatte das wirklich so absolut gar nichts zu tun. Bereits das beinahe bedrohlich erscheinende Schultor, das man passieren musste, war neu. Mit Maschendrahtzaun. Mal eben nach Hause gehen weil man „Bauchschmerzen“ hatte, gab es hier nicht. Seinen Schulausweis musste man auch mitbringen. Hatte man „Bauchschmerzen“ und erschien deswegen erst gar nicht in der Schule, wurden umgehend die Eltern informiert und es blühte einem eine Menge Ärger. Auch der französische Schulunterricht war für uns ungewöhnlich. Wir waren eher an Lehrer gewöhnt, die der im morgendlichen Halbschlaf auf ihren Tischen hängenden, pubertierenden Klasse mit unermüdlicher Geduld Fragen stellten. Aufgrund der lethargischen Zurückhaltung wurde entweder der Streber, dessen Finger bei jeder Frage hastig nach oben schnellte, dran genommen oder eben diejenigen, die in solchen Momenten der nackten Panik hofften, ihre absolute Ahnungslosigkeit würde unbemerkt bleiben. 
Hier waren unsere rhetorischen Fähigkeiten unerwünscht. Nach 20 Minuten hatten wir begriffen, dass wir dem Lehrer ein gigantischer Dorn im Auge waren und man sich hier Wort für Wort mitschreibend über sein Heft zu beugen hatte. Ein kleines bisschen fand man die Schule in Deutschland dann doch ganz gut. 

 Besonders in Erinnerung geblieben, sind die neidischen, latent leidenden Gesichtsausdrücke unserer französischen Altersgenossen, wenn es etwa um unsere freien Nachmittage ging. Französische Schüler verbringen ihren Tag bis 18 Uhr in der Schule. Hinzu kommen Hausaufgaben, die hiernach noch erledigt werden müssen. Und das betrifft auch die Jüngsten (also die, die gerade lernen, wie man mit einem Buntstift das Alphabet schreibt). Zum Spielen oder für andere Aktivitäten, blieb der hingegen komplett freie Mittwoch. Kritisiert wird, die Schultage seien viel zu lang und das Schuljahr hingegen zu kurz (Französische Schüler gehen im Schnitt 144 Tage jährlich zur Schule, zum Vergleich: deutsche Schüler ertragen 208 Tage). Diese Unregelmäßigkeit hat unter anderem Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und schlechte Lernerfolge zur Konsequenz: Den Studien der PIRS (Progress in international reading literacy study) zufolge lagen französische Grundschüler im Lesen mit 520 Punkten unter dem europäischen Durchschnitt von 534.

Anders als in Deutschland, wo jedes Bundesland und jede Schule ihr ganz eigenes System hat und sich nicht scheut, dieses nach Lust und Laune neu zu strukturieren, war man in Frankreich bisher eher zögerlich, wenn es darum ging, das archaische, rostige Bildungssystem zu reformieren.
Unter Hollande verabschiedete die französische Regierung für den Beginn des Schuljahres 2013/14 jedoch tatsächlich eine Reform. Zurück zu viereinhalb Schultagen die Woche mit drei Stunden Unterricht am Mittwochvormittag. Mehr Unterricht heißt das hingegen nicht: es werden jeweils eineinhalb Stunden dienstags und freitags abgezogen, damit auch französische Schüler mehr Zeit haben, musischen Nachmittagsaktivitäten nachgehen können. Trotz der wie gewohnt massiven Proteste, die das erhöhte Kostenaufkommen auslöste, scheinen 85% der Kommunen, die die Reform bereits dieses Schuljahr durchgeführt haben, zufrieden zu sein. Zwischen 150 und 200€ Mehrkosten pro Kind kommen auf die Kommunen zu. Bis März 2014 soll die Schulreform in ganz Frankreich durchgesetzt werden. Bis dahin lässt der nächste Protest bestimmt nicht auf sich warten: bisher war es von Vorteil für die Berufstätigkeit von Frauen, wenn die Kinder lange in der Schule waren... 

Autorin: Nadia Wolf

Commentaires